Es ist halb zehn. Ich mache gerade Kaffeepause und denke mir nichts Böses, als mein Handy klingelt. Ein FaceTime-Anruf. Cool, denke ich mir. Das hatte ich auch noch nie. Ich weiß zwar, dass es FaceTime gibt, kenne allerdings niemanden, der das tatsächlich benutzt. Gespannt werfe ich einen Blick auf das Display meines Handys und ahne Schreckliches ... Mama. Das wird jetzt garantiert spannend.
Als ich abhebe, sehe ich das Ohr meiner Mutter. Logisch. Sie telefoniert ja schließlich "Hallo Ohr von Mama", begrüße ich meine Mutter freundlich. "Hä? Wieso Ohr?", fragt sie mich. "Na, weil du per FaceTime anrufst. Das ist Videotelefonie und ich kann dich sehen – also jedenfalls dein Ohr. Du müsstest dir das Handy vielleicht vors Gesicht halten, dann sehe ich dich in deiner ganzen Pracht ... und du mich übrigens auch."
Ich wusste gar nicht, wie groß das Auge meiner Mutter ist. "Etwas weiter weg vielleicht", empfehle ich ihr. Sofort kommt meine Mutter diesem Vorschlag nach und setzt dabei ihr Küchenregal perfekt in Szene. Sie scheint einen neuen Teeautomaten zu haben. "VOR dein Gesicht, Mama, nicht daneben."
Ah jetzt. Geht doch. Endlich sehe ich meine Mutter. Na ja, genau genommen nur ihre Augen. Keine Ahnung, wohin Letztere schauen. Jedenfalls nicht auf ihr Handy. "Jetzt musst du nur noch aufs Display kucken, dann ist es fast, als würden wir uns gegenübersitzen", schnurre ich wie ein Kätzchen und frage mich, ob die Deckenlampe, die jetzt mit mir telefoniert, auch neu ist.
Ist ein Glas Rotwein um halb zehn eigentlich okay oder macht mich das zum Alkoholiker? Soll ja angeblich beruhigend wirken. Egal. Einundzwanzig. Zweiundzwanzig. "Mama", starte ich dann einen letzten Versuch. "Halt dein Handy doch einfach so vor dein Gesicht, dass du mich siehst und orientiere dich an dem kleinen Bildchen rechts oben daran, wie du dein Handy halten musst, damit ich dich auch sehen kann."
"Alles klar", flötet sie, während das Bild von ihrer Nase über besagte Deckenlampe zum Küchenregal und wieder zurück mäandert.
Okay, ich geb's auf. "Was kann ich denn für dich tun, Mama?", frage ich. "Eigentlich gar nichts", brüllt sie, als hätte sie das Handy mittlerweile im Wohnzimmer abgelegt. "Ich wollte dir eigentlich nur ein Foto schicken".
Ein Glas Wein wird schon nichts ausmachen ...
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